Psychische Grundbedürfnisse und Corona

Psychische Grundbedürfnisse und Corona

In der letzten Zeit hört und liest man immer wieder, wie stark sich die Corona-Pandemie auf die psychische Gesundheit von einigen Bürgern auswirkt. Die einen trifft es härter, die anderen kommen ganz gut klar. Klar ist, dass es selbstverständlich eine große Rolle spielt, wie sehr man von den Regelungen getroffen ist: ist die eigene berufliche oder finanzielle Lage gefährdet? Gibt es Möglichkeiten die Kinderbetreuung zu organisieren? Funktioniert das Zusammenleben harmonisch, ggf. auch auf engstem Raum? Habe ich einen Partner/eine Partnerin oder eine Familie, sodass ich nicht alleine zuhause bin? Bin ich vielleicht ohnehin schon sehr ängstlich bezüglich Krankheiten? All diese und noch viele weitere Faktoren, beeinflussen die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf unsere psychische Verfassung enorm. Zugleich liegt jeglichem psychischen Leiden die gleiche Ursache zugrunde: Unsere psychischen Grundbedürfnisse werden nicht erfüllt. Der renommierte Psychotherapieforscher Klaus Grawe hat in seinen Forschungen vier essenzielle Bedürfnisse aufgedeckt, die jeder Mensch neben den physischen Grundbedürfnissen, wie Hunger, Durst, Schlaf etc. in gewissem Ausaß erfüllt braucht, um gesund zu bleiben: Bindung, Kontrolle, Selbstwert und Lust. Im letzten Beitrag sind diese nochmals genauer erklärt.

Wenn wir uns die Grundbedürfnisse im Hinblick auf die Corona-Pandemie anschauen, wird schnell deutlich, warum diese so vielen Menschen auf die psychische Gesundheit schlägt.

Das Grundbedürfnis nach BINDUNG

Das Bedürfnis nach Bindung kann aktuell schwerer als sonst erfüllt werden. “Social Distancing“ und Kontaktbeschränkungen sind angesagt. Das bedeutet aber nicht, dass es keine anderen Möglichkeiten gibt, um dem Grundbedürfnis nach Bindung nachzukommen. Wir können mit unseren Liebsten Telefonieren oder sie sogar über Videotelefonie sehen und mit ihnen sprechen. Wir können uns über soziale Netzwerke austauschen, können E-Mails oder sogar Briefe verschicken. Auch über z.B. Online-Spiele können wir virtuell in Kontakt bleiben und unser Bedürfnis nach Bindung stillen. Auch ist es tagsüber erlaubt, mit einem weiteren Haushalt an der frischen Luft, unter Einhaltung der Abstands- und Hygieneregeln spazieren zu gehen.

Das Grundbedürfnis nach KONTROLLE

Auch unser Kontrollbedürfnis wird zur Zeit ganz schön frustriert. Wir haben deutlich weniger Handlungsspielraum, weniger Optionen und gleichzeitig die große Unsicherheit, wie sich alles in Zukunft entwickeln wird. Nach Kontrolle oder Sicherheit fühlt sich das nicht an. Es gibt aber auch hier Möglichkeiten, die Kontrolle über unseren Tagesablauf aktiv zu übernehmen, ganz unabhängig wie hart uns die Situation gerade trifft. Tägliche To-Do-Listen oder einen Tages- bzw. Wochenplan zu schreiben, kommt unserem Bedürfnis nach Kontrolle nach. Auch feste Routinen geben Halt: feste Zeiten, in denen man morgens aufsteht oder abends schlafen geht, wann man Essen macht oder die Mahlzeiten einnimmt aber auch das aktive Einplanen von Freizeitaktivitäten und angenehmen Erlebnissen. Nicht zu vergessen: Wir HABEN Einfluss auf die Pandemie-Entwicklung und können das Ganze zum Positiven wenden indem wir uns an die Regeln halten. Auch diese Sichtweise immer mal wieder aktiv einzunehmen und sich bewusst zu machen, kann helfen uns zu zeigen, dass wir durchaus Kontrolle haben.

Das Grundbedürfnis nach SELBSTWERT

Unser Selbstwert bleibt uns in der Regel erhalten, wenn wir Wertschätzung erhalten und wenn wir uns kompetent und fähig erleben. Da aktuell viele unserer gewohnten Möglichkeiten wegfallen (weil wir unserem Hobby vielleicht schwerer nachgehen können oder bei der Arbeit aufgrund von Homeoffice die Rückmeldung ausbleibt), ist es insbesondere wichtig, sich auf das was wir können zu fokussieren oder Neues auszuprobieren um uns weiterzuentwickeln. Wenn wir Dinge ausführen, die wir gut können, stärkt das unseren Selbstwert. Aber auch Neues zu lernen, die Zeit zu nutzen um z.B. eine Sprache zu lernen, neue Sportarten zu testen, ein Instrument oder singen zu lernen oder sich mit persönlicher Weiterentwicklung zu beschäftigen, sind Möglichkeiten uns gut zu fühlen und unserem Bedürfnis nach einem stabilen Selbstwert nachzukommen.

Das Grundbedürfnis nach LUST

Das Erleben von Lust und Freude bzw. das Vermeiden von unangenehmen Erfahrungen ist aktuell auch schwieriger zu erreichen als sonst. Vieles, was zu unseren Hobbies und Interessen gehört kann gerade nicht durchgeführt werden. Die Zeit bietet sich also auch hier an, um kreativ zu werden bezüglich neuer Hobbies/Interessen oder seinen bereits bestehenden Hobbies und Interessen weiterhin nachzugehen und sich hierfür aktiv Zeit einzuplanen. Es kann hilfreich sein, sich zu überlegen, was wir sonst so tun um unser Lust-Bedürfnis zu stillen. Was davon können wir aktuell noch tun? Wie können wir diese Dinge vielleicht anpassen? Wenn wir sonst viel unterwegs sind und reisen, können wir die Zeit z.B. nutzen um zu recherchieren, welche Reiseziele wir noch sehen wollen, wir können Fotoalben mit früheren Reisen gestalten und uns an den schönen Erfahrungen erfreuen, oder wir können Filme/Dokumentationen zu verschiedenen Orten oder Kulturen schauen. Das gleiche gilt für den Fall, wenn wir ansonsten eine bestimmte Sportart durchführen, die wir aktuell nicht durchführen können. Wir können uns dafür theoretisch mit dem Thema befassen, neue Ideen und Inspirationen durch Literatur, Filme oder Interviews sammeln. Hierfür nehmen wir uns selten die Zeit, obwohl wir dadurch ebenfalls stark in einem bestimmten Themengebiet wachsen können.

Kontinuierliche Reflexion

Da wir alle unterschiedliche Ausprägungen dieser Bedürfnisse haben, gibt es auch kein Patentrezept, das für jeden gilt, um diesen Bedürfnissen auch während der aktuellen Ausnahmesituation, nachzukommen. Man könnte sich aber immer wieder fragen:

  1. Was kann ich tun, um mich mit anderen Menschen verbunden zu fühlen? Wie viel Zeit sollte ich hierfür jeden Tag einplanen?
  2. Was kann ich tun, um meinem Kontrollbedürfnis nachzukommen? Wie viel Zeit sollte ich hierfür jeden Tag einplanen?
  3. Was kann ich für meinen Selbstwert tun? Wie viel Zeit sollte ich hierfür jeden Tag einplanen?
  4. Was kann ich mir Gutes tun? Was mache ich sonst, um Angenehmes zu erleben und wie kann ich diese Aktivitäten an die aktuelle Situation anpassen? Wie viel Zeit sollte ich hierfür jeden Tag einplanen?

Neben den psychischen Grundbedürfnissen, sollten wir aber auch unsere physischen nicht vergessen. Ausreichend Schlaf, ausgewogene Ernährung und körperliche Aktivität sind ebenfalls wichtig, um unsere psychische Gesundheit zu gewährleisten. Unter anderem deswegen, weil der Körper dann mit weniger Stressoren zu kämpfen hat und damit mehr Kapazität für die psychischen Stressoren zur Verfügung hat.

Doch wie immer gilt: Jegliche Bedürfnisse immer zu 100% zu decken, ist in der Regel nicht möglich. Ein derartiger Anspruch wäre kontraproduktiv, da wir dadurch erneuten Stress erzeugen. Wir befinden uns aktuell in einer Ausnahmesituation, in der negative Gedanken oder Gefühle vollkommen normal sind und auch mal da sein dürfen. Immer positiv zu denken ist nicht realistisch 🙂 Immer mal wieder in sich zu gehen und zu prüfen, wo etwas aus dem Gleichgewicht geraten könnte und dann entsprechend dagegen vorgehen, kann jedoch helfen, um aktiv für mehr Wohlbefinden zu sorgen.

Akute Krisensituationen

Sollten Sie in eine psychische Notlage geraten und Hilfe benötigen, gibt es (auch während des Lockdowns) verschiedene Möglichkeiten:

  • Telefonseelsorge 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222, aber auch über Chat: www.telefonseelsorge.de
  • Deutsche Depressionshilfe: 0800/33 44 533
  • Bei häuslicher Gewalt: 0800/116 016
  • Alternativ können Sie Ihren Hausarzt, einen Facharzt oder die nächstgelegene psychiatrische Klinik aufsuchen.